Zwei Feinde in derselben Grube


Salman Masalha

Zwei Feinde in derselben Grube


Ein grundlegendes Problem arabisch-islamischer Gesellschaften ist die fehlende Tradition der Gewissensprüfung. In anderen Gesellschaften ist dieser Prozess solide in der Denkkultur verankert und ermöglicht ständige Selbstkorrektur, aber die arabischen Gesellschaften kennen diesen Mechanismus nicht. Weder schreibt ihn die Religion vor, noch ist es im Interesse der korrupten Regime, ihn zu propagieren; auch die arabischen Intellektuellen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – führen diesen Artikel nicht im Sortiment.

Der grosse palästinensische Dichter Mahmud Darwish ist tot und wird zum Krieg in Gaza nicht mehr Stellung nehmen können. Aber im Juli 2008, kurz vor seinem Tod, hat Darwish noch ein Gedicht mit dem Titel «Szenario, im Voraus geschrieben» verfasst: die Vision zweier Feinde, die in dieselbe Grube stürzen. Der eine ist der Dichter selbst, der andere einfach «Der Feind», mit grossgeschriebenem Artikel – der Leser soll sich selbst den Reim darauf machen, wer gemeint ist.

Der Spiegel der Selbsttäuschung
Jetzt klafft die Grube namens Gaza und hat die beiden Gegner verschlungen. Und einmal mehr erfahren die Palästinenser ihre Ohnmacht, nachdem der Spiegel der Selbsttäuschung zersprungen ist. Hani al-Masri, Kommentator der in Ramallah verlegten palästinensischen Tageszeitung «Al-Ayyam», beklagt die laue Reaktion seiner Landsleute in Cisjordanien angesichts der Todesopfer und der Zerstörungen im Gazastreifen. Sie gleiche, so al-Masri, «eher den Solidaritätskundgebungen irgendwo sonst in der Welt als dem Handeln, das man von Angehörigen der betroffenen Nation erwarten würde. Ja, sogar die Solidaritätskundgebungen anderswo waren eindrücklicher als das, was man von der Öffentlichkeit in Cisjordanien zu sehen und zu hören bekam.»

Immer wieder werden dieselben Klagen über das bittere Los der Palästinenser laut, doch nie versucht man sich dabei einer echten Gewissensprüfung zu stellen. «Wir sind schwach, wir sind besiegt . . . deshalb vergebt uns unsere toten Kinder», wendet sich Abdullah Awwad, ebenfalls Kommentator bei «Al-Ayyam», mit beissendem Zynismus an die palästinensische Führungsriege. «Warum gehen Abbas und Mashal eigentlich nicht nach Gaza? Führer sollten bei ihrem Volk sein, nicht bloss auf dem Fernsehschirm . . . aber bis dato hat sich nicht einer von ihnen unter den Kämpfern, unter den Menschen in Gaza gezeigt.»

Der palästinensische Schriftsteller Ali al-Khalili wiederum bedauert, dass sich Araber und Palästinenser aus der Opferrolle hätten verdrängen lassen und dass diese ihrem ungleich stärkeren Widerpart zugefallen sei. «Das Erstaunliche ist», schreibt al-Khalili, «dass die Welt diese Sicht Israels akzeptiert.» Man müsse sich, so argumentiert er weiter, den «Holocaust» in Gaza zunutze machen, um den Palästinensern ihren Opferstatus zurückzugeben, weil dies ihre prädestinierte Rolle gegenüber dem israelischen Gegner sei.

Gottgesandter Feind
Der einzige palästinensische Intellektuelle, der sich deutlich kritisch gegen die Hamas ausgesprochen hat, ist Hassan Khader. Die massive Attacke gegen Gaza, schreibt er, habe Dimensionen, die über die unmittelbaren militärischen Zielsetzungen hinausgingen, welche Israel im Gazastreifen erreichen könne: Es gehe vielmehr darum, eine neue Generation von Waffen auszuprobieren und mit neuen Kriegstaktiken zu experimentieren. Die Hamas habe Israel alle Konditionen für dieses Experiment geliefert. Die Israeli wüssten, so Khader, dass Gott ihnen sozusagen den idealen Feind geschenkt habe, einen, der vor allem Lärm und grosse Worte produziere. «Die Hamas», schreibt er weiter, «hat hier keine Alliierten oder Freunde mehr, weder für die Sache der Palästinenser noch für ihre eigene. Die Hamas hat alles in ihrer Möglichkeit Stehende getan, um den Hintersten und Letzten davon zu überzeugen, dass die Palästinenser Goliath sind und dass man ihnen demzufolge nur mit Gewalt beikommen kann.»

Das bereits erwähnte Gedicht, welches Mahmud Darwish kurz vor seinem Tod veröffentlichte, endet mit folgenden Zeilen: «Hier, an diesem Ort, liegen der Mörder und der Tote in derselben Grube / ein anderer Dichter wird dies Szenario fortschreiben müssen / bis zum Ende.» Und tatsächlich hat sich nun im Verlauf des Krieges in Gaza ein anderer palästinensischer Dichter – nämlich Samih al-Qasim, der zudem israelischer Bürger, Aspirant für den Titel des Nationaldichters und obendrein Ehrenkandidat auf der Liste der Hadash-Partei für die Knesset ist – diese Rolle angemasst. In einem Gedicht mit dem Titel «Predigt für den Freitag der Erlösung» tönt er: «Ich bin der König von Jerusalem. Spross der Jebusiten. Nicht du, Richard . . . / Nimm deine Schwerter, nimm deine Schilde, Richard / Und mach dich auf den Weg. / Dein Stern ist im Sinken, meiner im Steigen . . . / Ich bin der König von Jerusalem / Lass mir das Kreuz / Lass mir den Halbmond / Und den Davidstern . . . / Wenn du willst, verlass das Land lebendig / wenn du willst, verlass es tot.»

Gegenüber solch aufgeblasener Rhetorik wirken Hassan Khaders Worte wie der Strahl eines Leuchtturms: «Es ist eine Ironie des Schicksals, dass der falsche Goliath den echten bedroht . . . dass er verkündet, Israels Ende sei nahe, während der wahre Goliath auf die Palästinenser einschlägt, sie bombardiert und dabei Tränen vergiesst.» Und hatte nicht Mahmud Darwish schon im Juni 2007, nach der Machtübernahme der Hamas im Gazastreifen, diesen Selbstbetrug in einem Gedicht exponiert? «Wie wir gelogen haben, als wir sagten, dass wir was Besonderes sind . . . Die eigenen Lügen zu glauben, ist schlimmer, als andere zu belügen.»

Hoffnung auf den «klugen Regisseur»
Während ich diese Worte schreibe, geht das blutige Spiel im Gazastreifen weiter. Es scheint, dass sowohl die Akteure als auch die Zuschauer hier in der Region nach einer Fortsetzung der Tragödie rufen. Um dieses miese, von miesen Autoren verfasste Szenario zu beenden, würden wir hier vor allem einen klugen und mutigen Regisseur benötigen, der die israelisch-palästinensische Bluthochzeit ein für alle Mal auflöst. Und weil sich hier, wo wir sind, keine klugen Dramatiker und Regisseure finden, muss diese Instanz von aussen kommen – in Gestalt von massivem internationalem Druck, dahingehend, dass die israelische Besetzung beendet und ein palästinensischer Staat in allen seit 1967 besetzten Territorien gegründet werden müsse und dass Palästinenser und Araber ihrerseits sich zu einer genuinen Anerkennung des Staates Israel durchzuringen hätten, die verinnerlichte Überzeugung wäre und nicht bloss ein Lippenbekenntnis. Wenn dies nicht geschieht, dann könnte diese Tragödie nur der Auftakt zu einer Welttournee von blutigen Nachspielen sein.

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